Rassistischer Putsch in Bolivien

Ausschreitungen in mehreren Städten – Morales nach Mexiko ausgeflogen

In Bolivien herrscht ungeschminkter Klassenkampf
zwischen der mehrheitlich indigenen Landbevölkerung und der ihre
Abstammung auf europäische Kolonialherren und Einwanderer
zurückführenden Ober- und „Mittelschicht“. Der gewaltsame Sturz
des gewählten Präsidenten Evo Morales am vergangenen Wochenende hat
die institutionellen Regeln zerrissen, die – zumindest seit dem
Amtsantritt des ersten indigenen Präsidenten des südamerikanischen
Landes im Jahr 2006 – den rassistischen Hass der „Weißen“
gegen die „Indios“ eindämmen konnten. Mit dessen von Polizei und
Militär erzwungenem Rücktritt am 10. November gilt das nicht mehr –
wie auch die ungehinderten Angriffe militanter Rechter auf linke
Rundfunk- und Fernsehstationen, Politiker der Regierungspartei MAS
und deren Angehörige und auf die Botschaft Venezuelas in La Paz
zeigten.

Auslöser des Staatsstreichs war die Wahl vom 20.
Oktober, die Morales dem offiziellen Ergebnis zufolge mit 47,08
Prozent der Stimmen gewonnen hat. Da der Zweitplatzierte, der
konservative Carlos Mesa, mit 36,51 Prozent mehr als zehn Punkte
hinter dem Führenden lag, war Morales damit im ersten Wahlgang
gewählt. Die Opposition nutzte jedoch den Umstand, dass der
Vorsprung des Amtsinhabers bei Zwischenergebnissen geringer gewesen
war, um von Betrug zu sprechen und zu Protesten gegen das
Wahlergebnis aufzurufen. Schon damals wiesen die Wahlbehörde TSE und
Beobachter allerdings darauf hin, dass zu diesem Zeitpunkt noch mehr
als eine Million Stimmen aus den ländlichen Regionen nicht in das
Ergebnis eingeflossen waren. Auf dem Land und in den Bergbauregionen
verfügen Morales und seine „Bewegung zum Sozialismus“ (MAS)
jedoch über ihre absoluten Hochburgen.

Trotzdem behauptet inzwischen auch die
Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), dass der von Morales auf
den letzten Metern erreichte Vorsprung „statistisch unmöglich“
gewesen sei. Die Indígenas Boliviens verstehen das als Signal: Wie
früher sollen sie von den weißen Machthabern ignoriert und
ausgegrenzt werden, ihre Stimmen sollen nicht zählen.

Dagegen sind Anfang der Woche tausende Menschen
auf die Straße gegangen. Vor allem in den beiden Nachbarstädten El
Alto und La Paz – wo sich die Regierungsgebäude befinden – kam
es zu Ausschreitungen. Die Wut der Demonstranten richtete sich nicht
nur gegen die politischen Putschisten, sondern auch gegen die
Polizei, deren Rebellion gegen die legitime Regierung den
Staatsstreich erst möglich gemacht hatte. Nachdem im Internet Bilder
kursierten, wie Polizisten die indigene Wiphala – neben der
rot-gelb-grünen Trikolore die Staatsflagge Boliviens – von ihren
Gebäuden einholten, aus den Abzeichen ihrer Uniformen
herausschnitten oder sogar verbrannten, griffen die Demonstranten
Polizeifahrzeuge und -wachen an. Obwohl Morales seine Anhänger
wiederholt zur Gewaltlosigkeit aufrief, ist der Geduldsfaden bei
vielen Menschen gerissen. Sie skandierten: „Ahora sí – Guerra
Civil“ (Jetzt schon – Bürgerkrieg).

Das Militär, das sich Tage zuvor nicht den gegen
Morales rebellierenden Polizisten entgegenstellen wollte, kündigte
daraufhin an, gemeinsam mit der Polizei gegen die Protestierenden
vorzugehen und auch Gewalt einzusetzen. Spätestens jetzt zeigte sich
die wahre Fratze eines Militärputsches, dessen Existenz die deutsche
Bundesregierung, die Europäische Union und die US-Regierung einfach
leugnen.

Im Gegensatz dazu haben zahlreiche Länder Lateinamerikas den Staatsstreich entschieden verurteilt. Kuba, Venezuela und Nicaragua gehörten zu den ersten, die unzweideutig ihre Solidarität mit Evo Morales erklärten. Auch Uruguay und Mexiko verurteilten den Putsch. Die mexikanische Regierung gewährte Morales Asyl und holte ihn in der Nacht zum Dienstag mit einem Militärflugzeug aus Bolivien ab, um ihn in Sicherheit zu bringen. Scharfe Worte gegen die Putschisten fanden auch der gerade erst aus dem Gefängnis entlassene frühere brasilianische Präsident Luiz Ignácio Lula da Silva und der neugewählte Präsident Argentiniens, Alberto Fernández. Jubel herrschte dagegen bei der Rechten auf dem Kontinent. In Venezuela erklärte der selbsternannte „Übergangspräsident“ Juan Guaidó, es wehe „nicht nur eine Brise der Freiheit, sondern ein starker Wind“ durch Südamerika. Er rief seine Anhänger für diesen Samstag, 16. November, zu Großdemonstrationen und zum Sturz des rechtmäßigen Präsidenten Nicolás Maduro auf.

Vorab aus der UZ vom 15. November 2019



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