Arbeiterbewegung und Gewerkschaftskämpfe vor und nach 1989

Auf der Veranstaltung der DKP “DDR – der Zukunft zugewandt” hielt Achim Bigus ein Referat über die Folgen der “Wende 1989/90” für die westdeutschen Arbeiterinnen und Arbeiter. An dieser Stelle dokumentieren wir es in Gänze.

Ich bin gelernter Westdeutscher. Mein Thema ist nicht: „Wie war es in der DDR?“ Mein Thema ist: „Wie war es in der BRD, als es die DDR noch gab, und was hat sich im Westen nach dem Ende der DDR geändert?“

Erlaubt mir dazu eine persönliche Vorbemerkung. Der bekannte
Gedanke, dass im Rahmen der Systemkonkurrenz die DDR bei
westdeutschen Tarifrunden als unsichtbarer Partner mit am
Verhandlungstisch saß, war mir lange Zeit eher fremd. Ich bin zwar
seit Anfang der Siebziger Jahre aktiv in der linken sozialistischen
Bewegung, aber erst seit 1994 in der Deutschen Kommunistischen
Partei. Mein politischer Weg war zunächst lange Zeit geprägt durch
ausgesprochene Distanz zu den Staaten des Realen Sozialismus, wie bei
nicht wenigen West-Linken meiner Generation damals und auch heute.

Meine politischen Um- und Irrwege führte mich zuerst – sehr jung
und für relativ kurze Zeit – in eine Schülergruppe im Umfeld einer
der maoistischen K-Gruppen. Aus dieser Gruppierung ging später der
erste grüne Ministerpräsident eines deutschen Bundeslandes hervor.
Später war ich lange bei der trotzkistischen „Vierten
Internationale“ unter Führung von Ernest Mandel.

Den Gedanken vom Realen Sozialismus als unsichtbarem Tarifpartner
– wenn auch nicht so klar formuliert – hatte ich erstmals Anfang der
achtziger Jahre von einem älteren Kollegen gehört, der bei uns im
Betriebsrat war. Dieser Kollege war eher sozialdemokratisch
orientiert, aber in dieser Frage damals wohl realistischer und klarer
als ich.

An den Realen Sozialismus habe ich mich dann erst ab Mitte der
achtziger Jahre langsam angenähert, zunächst vor allem durch die
Eindrücke einer Reise nach Kuba. Und wie das dann im Leben so ist:
welche Bedeutung manche Dinge oder Personen für einen hatten,
erkennt man manchmal ja erst dann so richtig, wenn sie weg sind, wenn
man sie verloren hat. So ging es mir mit der DDR und den anderen
realsozialistischen Gesellschaften Osteuropas.

Heute finde ich: der Gedanke vom Realen Sozialismus als Faktor in
den Klassenauseinandersetzungen im Westen hat sich gerade durch die
Entwicklung nach dem Anschluss der DDR eindrucksvoll bestätigt.

Wiederkehr der Proletarität“

1993, also kurz nach dem Anschluss, eröffnete der linke
Sozialwissenschaftler und Historiker Karl-Heinz Roth eine Debatte
über die Veränderungen der Klassenbeziehungen in Ost- und
Westdeutschland, und zwar mit einem Aufsatz unter der etwas sperrigen
Überschrift „Wiederkehr der Proletarität“. Was war damit
gemeint?

Karl-Heinz Roth meinte zunächst nicht so sehr die grundlegenden
Veränderungen für die Arbeitenden in Ostdeutschland. Diese wurden
durch die Restauration kapitalistischer Verhältnisse, durch die
Privatisierung der ehemals Volkseigenen Betriebe wieder „doppelt
freie Lohnarbeiter“ im Sinne von Marx: sie können ihre
Arbeitskraft ohne Einschränkungen frei an einen Kapitalbesitzer
verkaufen – wofür z. B. die Staatsgrenze ja ein Hindernis war -,
aber sie müssen es auch, weil sie eben auch frei sind von Besitz an
Produktionsmitteln.

Diese Grundmerkmale einer proletarischen Klassenlage hatten für
die Arbeitenden im Westen ja immer bestanden. Darauf hat in dieser
Debatte z. B. Heinz Jung auch hingewiesen.

Allerdings hatten diese Grundmerkmale in den Nachkriegsjahrzehnten
erhebliche Modifikationen in ihrer konkreten Form erfahren. Darauf
bezog sich Karl-Heinz Roth, als er beschrieb, „was die
Verkäuferinnen und Verkäufer von Arbeitskraft inzwischen wieder
massenhaft erleben: unsichere Arbeitsplätze, wegbrechende
‚Normalarbeitszeiten‘, plötzliche Lohnsenkungen, wackelig
werdende Garantien für die Risiken von Krankheit, Invalidität und
Alter“. Diese Erfahrungen waren nicht nur für die Arbeitenden aus
der DDR neu, sondern auch für die breite Masse der Arbeitenden in
Westdeutschland und Westberlin.

Rheinischer Kapitalismus“

Denn nach der Weltwirtschaftskrise und dem Zweiten Weltkrieg
veränderten sich die Verhältnisse in den entwickelten
kapitalistischen Gesellschaften (nicht in den abhängigen Ländern
des globalen Südens!). Roth zitiert dazu den linkskeynesianischen
Wirtschaftswissenschaftler Michal Kalecki. Dieser vertrat Ende der
sechziger Jahre die Meinung, der Kapitalismus sei zu seiner
„entscheidenden Reform“ gezwungen worden. Durch staatliche
Interventionen in die Wirtschaft und den Ausbau der sozialen
Sicherungssysteme sei für die Arbeiterklasse eine unbefristete Ära
der Vollbeschäftigung und der hohen Realeinkommen angebrochen. Damit
sei im Ergebnis des Zweiten Weltkrieges und unter dem Druck der
Systemkonkurrenz die „soziale Frage“ zum partnerschaftlichen
Verteilungskonflikt innerhalb eines sozialstaatlichen Status Quo
gezähmt worden.

Dieses Bild hat mit dem heutigen Kapitalismus offensichtlich
nichts mehr gemein. Es passt aber zu der Erfahrungswelt der
Generation meiner Eltern bis Mitte der sechziger Jahre: Überwindung
von Arbeitslosigkeit und Not der Nachkriegszeit, Reallohnsteigerungen
bei etwa 5 % jährlich, stetige Verkürzungen der Arbeitszeit,
Leistungsverbesserungen und die Gleichstellung von Arbeitern und
Angestellten in der Renten- und Krankenversicherung – und das
„alles unter den Bedingungen einer kapitalistischen Wirtschaft und
unter der Regierungsführung der CDU/CSU“.

Diese Errungenschaften bekamen die Arbeitenden nicht kampflos
geschenkt. Auch in den 50er Jahren mussten die westdeutschen
Gewerkschaften einige große Kämpfe führen, wie z. B. den 16 Wochen
dauernden Streik der MetallerInnen in Schleswig-Holstein für die
Lohnfortzahlung im Krankheitsfall 1956/57. Doch alles in allem waren
die Lohnabhängigen der Bundesrepublik „im Hinblick auf
Lebensstandard und soziale Absicherung … an die Spitze der
Durchschnittswerte in Westeuropa gerückt“ und mussten dafür doch
weit weniger Kampfkraft aufwenden als die Arbeitenden in anderen
kapitalistischen Staaten. Für diesen „rheinischen Kapitalismus“
waren zwei Rahmenbedingungen entscheidend.

Zum einen war in der langen Nachkriegskonjunktur von Mitte der
50er bis Mitte der 60er Jahre die Nachfrage nach Arbeitskräften
relativ hoch. Auch nach dem Konjunktureinbruch 1966/67 stieg diese
zunächst wieder an. Erst mit der Weltwirtschaftskrise Mitte der 70er
Jahre kehrte anhaltende Massenarbeitslosigkeit wieder in die Realität
des westdeutschen Kapitalismus zurück.

Zum anderen aber wurde die BRD seit ihrer Gründung zum
„Frontstaat“ im Kalten Krieg aufgebaut. Schon Bismarck hatte
seinen Kampf gegen die damals noch revolutionäre Sozialdemokratie
mit „Zuckerbrot und Peitsche“ geführt (Sozialistengesetze gegen
die SPD, Sozialversicherungen für die Arbeitermassen). Auch Adenauer
und Erhard nutzen „Zuckerbrot und Peitsche“ für den Ausbau der
BRD zum „Bollwerk gegen den Kommunismus“.

Einerseits war die bürgerlichen Demokratie in dieser Bonner
Republik besonders eingeschränkt: alte Nazis in Justiz, Polizei,
Geheimdiensten und Militär, Antikommunismus als Staatsdoktrin (nicht
nur gegen kommunistische, sondern auch gegen linkssozialistische,
antifaschistische und militärkritische Kräfte), Verbot der
kommunistischen Partei (als einziger „westlicher“ Staat neben den
faschistischen Diktaturen Portugal und Spanien), besonders
eingeschränktes Streikrecht usw.

Auf der anderen Seite erfüllte auch der „sozialstaatliche
Klassenkompromiss“ eine Funktion als Waffe im Kalten Krieg. Nach
außen war der „Sozialstaat“ BRD das Schaufenster des „freien“
Westens für die Menschen im Osten. Ideologisch sollte er den Beweis
liefern, wie „sozial“ der Kapitalismus funktionieren kann.
Materiell diente er zur Abwerbung von Fachkräften, vor allem aus der
DDR, und damit zur ökonomischen Schädigung des realen Sozialismus.

Nach innen ging es um die politische Integration der westdeutschen
Arbeiterklasse, bei gleichzeitiger Verfolgung ihrer revolutionären
Minderheit durch KPD-Verbot und Antikommunismus. Die Lage der BRD an
der Nahtstelle der Gesellschaftssysteme, ihre Funktion als
Schaufenster gegenüber der DDR und den anderen sozialistischen
Ländern, wurde so zu einem Faktor neben anderen im Kräfteverhältnis
der Klassen innerhalb der BRD – stärker als in England,
Frankreich, Italien oder anderen westlichen Ländern.

Offensive des „Neoliberalismus“

Doch das Kapital kündigte den „Klassenkompromiss“ der
Nachkriegszeit wieder auf, und das nicht erst 1989. Zum ersten großen
Einschnitt wurde weltweit die Weltwirtschaftskrise 1974/1975. In
Westdeutschland saß damit nicht mehr nur die DDR in den Tarifrunden
mit am Tisch, sondern nun auch die Massenarbeitslosigkeit, auf Seiten
des Kapitals.

Die weltweite Offensive des „Neoliberalismus“ und der
Deregulierung begann in Chile. Dort legte Pinochet nach seinem
blutigen Putsch die Wirtschaftspolitik des Landes in die Hände der
„Chicago-Boys“. Es folgte die Regierungszeit von Margaret
Thatcher in Britannien nach ihrem Wahlsieg 1978 und die Reagan-Zeit
in den USA. Karl-Heinz Roth nennt auch Beispiele von Anfang der
achtziger Jahre aus Italien, Mexiko und Frankreich.

Aber gerade in Deutschland schafften es das Großkapital und seine
politischen Hilfstruppen zunächst nicht so recht, in der Offensive
gegen Gewerkschaften und Sozialstaat grundlegende Durchbrüche zu
erreichen, trotz der „Wende“ von 1982/83 zur Regierung Kohl. Die
IG Metall konnte noch Mitte der achtziger Jahre den Einstieg in die
35-Stunden-Woche durchsetzen, wenn auch nicht ohne Zugeständnisse an
die Flexibilisierungsstrategien des Kapitals.

Erst die weitere „Wende“ von 89/90, also das Ende der DDR und
die Restauration des Kapitalismus in Ostdeutschland, machte den Weg
frei für Kapital und Kabinett. Dazu schrieb Karl-Heinz Roth 1993:
„Ein gravierender und irreversibler Einbruch erfolgte erst durch
den Anschluss der DDR, deren volkswirtschaftliche Substanz im Herbst
1990 mit Hilfe monetärer Instrumente schlagartig zerstört wurde.
Parallel dazu wurden die bislang eher zögerlich gehandhabten
Deregulierungsmodelle in Gestalt der Treuhandanstalt mit voller Wucht
auf die ‚neuen Bundesländer‘ übertragen. In der untergehenden
DDR wurde ein neoliberaler Privatisierungsexzess in Gang gebracht,
dem unzweideutig experimentelle Funktion für den gesamten
Wirtschaftsstandort Deutschland zukommt(…) der Anschluss der DDR
wurde 1990 zum Ausgangspunkt für einen nachholenden
Deregulierungsprozess auf allen Ebenen der Wirtschafts- und
Sozialpolitik…“ und „verhalf der bisher nur schleichend in Gang
gebrachten Erosion sozialpartnerschaftlicher und sozialstaatlicher
Sicherungen in Westdeutschland zum Durchbruch auf eine qualitativ
neue Ebene.“

Umbruch der Klassenstrukturen in Ost – und West

Gerade die letzte Einschätzung hat sich seither bestätigt. Im
DDR-Gebiet gab es zunächst statt „blühender Landschaften“ eine
weitgehende Deindustrialisierung und Massenverarmung. Statt
„Angleichung der Lebensverhältnisse“ sind auch heute noch,
dreißig Jahre später, die Arbeitslosigkeit höher, die Einkommen
niedriger, die Arbeitszeiten länger und die Tarifbindung deutlich
geringer als im Westen.

Die neu aufgebauten Betriebe waren für das Kapital Versuchslabore
zur Erprobung neuer, profitablerer Methoden, wie Opel in Eisenach für
den damals aktuellsten Stand der sogenannten „schlanken Produktion“
oder BMW in Leipzig für einen extrem hohen Anteil an Leiharbeit und
Fremdvergaben über Werkverträge.

Und auch die „Rückwirkungen auf den nationalen
Gesamtarbeitsmarkt“ und damit auch auf die Klassenverhältnisse im
Westen zeigten sich schon sehr bald. Auch in westdeutschen Betrieben
gab es in den frühen Neunzigern „Entlassungswellen…,
Säuberungsaktionen in den Zuliefersektoren und… Angriffe auf das
Normalarbeitsverhältnis“ , also die Ausweitung prekärer
Arbeitsverhältnisse, welche nicht vor Armut schützen.

Damit einher gingen Angriffe auf die Tarifverträge. Für die
ostdeutsche Metallindustrie war im Frühjahr 1991 vereinbart worden,
angesichts der raschen Angleichung der Lebenshaltungskosten die
Ostlöhne bis zum 1. April 1994 an das Westniveau anzupassen. Doch im
März 1993 kündigte die Kapitalseite diesen laufenden Tarifvertrag
während der Friedenspflicht, drohte mit einer weiteren
Beschleunigung des Deindustrialisierungsprozesses und setzte damit im
ostdeutschen Metalltarifvertrag erstmals „Öffnungsklauseln“
durch, die Abweichungen von den Tarifverträgen nach unten zuließen.
So etwas hatte es bis dahin in der (west-)deutschen Tarifgeschichte
nach dem Zweiten Weltkrieg nicht gegeben

Die IG Metall rief dagegen nicht nur zu Warnstreiks in
Ostdeutschland auf, sondern auch zu Solidaritätsaktionen im Westen.
Das Echo darauf unter den Arbeitenden in Westdeutschland war
allerdings überschaubar. Die Bereitschaft der „Wessis“,
vermeintlich für die „Ossis“ auf die Straße zu gehen, war
beschränkt. Davon ermuntert, gingen die Kapitalverbände nun auch im
Westen zu einem zunehmend aggressiveren Kurs in Tarifverhandlungen
über.

Auch in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik wurde in den neunziger
Jahren der Weg eingeschlagen, der später zu den Hartz-Gesetzen
führte. Übrigens: mit dem Angriff auf die Lohnfortzahlung im
Krankheitsfall 1996 und mit der schrittweisen Demontage der
paritätisch umlagefinanzierten gesetzlichen Rente nahmen das Kapital
und seine Regierungen gerade die Elemente des „Sozialstaates“
unter Beschuss, die in den 50er Jahren zugestanden worden waren.

Das Schaufenster hatte seine Funktion erfüllt, das ausgelegte
Zuckerbrot wurde ausgeräumt – und ersetzt durch die Peitsche von
Erwerbslosigkeit und sozialem Abstieg, um die Etablierung eines
breiten Niedriglohnsektors zu erzwingen.

Im Ergebnis dieser Prozesse haben sich die Kräfteverhältnisse
zwischen Kapital und Arbeit tiefgreifend und nachhaltig zugunsten des
Kapitals verschoben. Armut trotz Arbeit, Prekarisierung und
zunehmende Existenzunsicherheit, abnehmende Tarifbindung und
wachsende betriebsratsfreie Zonen vor allem im Osten, aber zunehmend
auch im Westen, sind die Zeugnisse davon.

Dem Anschluss ‚von oben‘ die Einheit ‚von unten‘
entgegensetzen“…

…so formulierte eine marxistische Zeitschrift zur Bundestagswahl
1990 unsere zentrale Aufgabe. Diese ist bis heute ungelöst.
Stattdessen haben wir es inzwischen mit vielfältigen Spaltungslinien
innerhalb der Klasse der lohnabhängig Arbeitenden zu tun, welche
sich gegenseitig durchdringen und überlagern: zwischen West und Ost,
Stamm- und Randbelegschaften, Konzernbetrieben und Zulieferern,
Beschäftigten und Erwerbslosen, Männern und Frauen, Deutschen und
Einwanderern, Belegschaften mit und ohne Tarif usw. Viele dieser
Spaltungslinien gab es schon in der Alt-BRD, andere sind nach dem
Anschluss der DDR entstanden, alle wurden in der Folge der
sogenannten „Vereinigung“ vertieft und verschärft.

Doch immer wieder flammt an unterschiedlichen Punkten auch
Gegenwehr der Arbeitenden gegen die Zumutungen des Kapitals auf. Eine
erneute Verschiebung des Kräfteverhältnisses zu unseren Gunsten,
ein Stopp der Offensive des Kapitals ist nicht unmöglich. Dies wird
aber abhängen von der Lösung der oben genannten Aufgabe – und
davon, dass die Arbeitenden den Satz von Brecht verstehen und danach
handeln, den die Kalikumpel von Bischofferode 1993 zur Losung ihres
Kampfes gegen die Abwicklung durch die Treuhandanstalt gemacht hatte:

Um uns selber müssen wir uns selber kümmern!

Ein Ausschnitt des Referats erschien in der UZ vom 15. November 2019



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